Arbeitsalltag Gastwirtschaft. Hinter den Kulissen eines Hotels
In Drosendorf an der Thaya im nordöstlichen Waldviertel Österreichs liegt das Hotel „Zum goldenen Lamm“. Seit mehr als dreihundert Jahren werden hier Gäste untergebracht und verpflegt. Das bedeutet(e) viel Arbeit. Mitarbeiter*innen des Betriebs berichten von ihrem gegenwärtigen und vergangenen Arbeitsalltag.
Die Gaststube als Bühne
In der Gaststube treffen Reisende auf Bereiste, Gäste auf Beschäftigte. Das Hotel „Zum goldenen Lamm“ kann auf eine lange Geschichte des Umgangs mit Gästen zurückblicken. Eines der ältesten Fotos zeigt die Gaststube um 1930. Hinter der Schank steht Leopoldine Failler, eine wohlhabende Bauerstochter, die mit ihrer Mitgift den Betrieb ihres Ehemanns Ferdinand Failler vor dem Konkurs rettete.
Ihre inzwischen über achtzigjährige Enkelin Erika Resel (geb. Failler), Tochter von Ferdinand Failler Junior und Julia Failler, arbeitete seit ihrer Kindheit im Familienbetrieb „Zum goldenen Lamm“ mit. Ab den 1960er-Jahren half sie nur mehr in der Hochsaison von Juni bis September aus. „Naja, mir hat das schon Spaß gemacht, bei den Gästen draußen ein bisschen reden oder plaudern. Meine Devise war: Es kommt ein Gast, du gehst zum Tisch, sagst ,Grüß Gott‘ und lachst. Und das Lachen hat dir jede Türe geöffnet.“,[i] erzählt sie mir von ihrem damaligen Arbeitsalltag.
Als Servicekraft befand sich Erika Resel in der Gaststube auf der Vorderbühne. Das Begriffspaar „Vorderbühne“ und „Hinterbühne“ stammt von Erving Goffman. Ende der 1950er-Jahre entwickelte der kanadische Soziologe eine Interaktionstheorie, die das Theater als Modell sozialer Handlungen nutzt.[ii] Menschen stellen sich dar,[iii] spielen eine Rolle.[iv] Wir sind uns bewusst, dass andere uns beobachten und produzieren in Interaktionen ein bestimmtes Bild unserer Person, eine „Fassade“.[v] Sein Werk bekam im Deutschen den bezeichnenden Titel: „Wir alle spielen Theater“.[vi]
Mit den Termini „Vorderbühne“ und „Hinterbühne“ geht Goffman auf die räumliche Trennung ein, die mit der Inszenierung des Selbst einhergeht. Auf der Vorderbühne sind wir Darsteller*innen, die Hinterbühne ist der Ort, an dem die Darsteller*innen „die Maske fallen lassen“[vii] dürfen. So pendeln Kellner*innen zwischen Gaststube („Vorderbühne“) und Küche („Hinterbühne“) hin und her.
Dabei muss das Servicepersonal stets die Fassade der Gastfreundschaft aufrechterhalten. Mustafa Masudi, der im Hotel „Zum goldenen Lamm“ 2022 sein letztes Lehrjahr als Restaurantfachmann abschließt, verrät:
„Am Wochenende ist es so, dass wir einen Tisch zwei bis drei Mal vergeben. Da ist es dann spannend, wie ich es schaffe, dass der Gast in einer Stunde Vorspeise, Hauptspeise und Nachspeise isst, genug Getränke hat, zahlt und weitergeht. Manchmal kommt die zweite Runde der Gäste schon und da sag ich: ,Nehmen Sie kurz an der Bar Platz, ein Aperitif geht aufs Haus.‘ Dafür gewinne ich ein paar Minuten und dann ist der Tisch schon frei.“[viii]
Zum Verhältnis von Gästen und Personal
Die Schank steht zwischen „Vorder– und Hinterbühne“.[ix] Sie markiert eine Schwelle, die nur das Servicepersonal überschreiten darf. Wenn Mustafa seine Gäste an die Bar bittet, dann würden sich diese wohl niemals hinter die Bar setzen. Gäste sind Kund*innen, Gastgeber*innen sind Dienstleister*innen.[x] Ein Verhältnis, das sich unter anderem in Grand Hotels formte. Im frühen 19. Jahrhundert entstand mit gesellschaftlichen Entwicklungen wie der Industrialisierung eine neue Oberschicht. Die Superreichen Europas logierten gerne in Grand Hotels – Hotel-Palästen, die mit modernster Technik ausgestattet waren: Zentralheizung, elektrische Beleuchtung, Aufzug und sogenannte water closets gehörten zum Inventar.[xi] Auf drei Gäste kamen zwei Angestellte. Die Zusammenarbeit musste reibungslos funktionieren. Statt der familiären Führung von Wirtsleuten herrschte professionelles Management.[xii] Ein bekanntes Beispiel aus Niederösterreich ist das Südbahnhotel am Semmering. Dort arbeitete Ferdinand Failler Junior um 1920 als Kellner.
Verborgene Arbeitsalltage
Die über achtzigjährige Elisabeth di Giorgio (geb. Failler), schildert, was sich in den 1960er-Jahren auf der „Hinterbühne“ des Hotels „Zum goldenen Lamm“ zutrug. Zu einer Zeit, in der die Sommerfrische in Niederösterreich noch einmal auflebte,[xiii] beherbergte das Haus bis zu achtzig Pensionsgäste. Sie, Tochter des Hauses, Schwester von Erika Resel und Köchin, begann ihren Arbeitstag früh morgens:
„Um sechs, da habe ich angefangen. Da habe ich das Gastzimmer gemacht, gekehrt und aufgewischt. Dann habe ich aufgedeckt fürs Frühstück. Dazwischen habe ich das große Häfn[xiv] für die Suppe aufgestellt, in dem das Rindfleisch gekocht wurde. Die Kartoffeln, die am Vortag schon hergerichtet waren, sind zum Kochen gekommen. Dann sind die Mädchen, die Frühstück serviert haben, gekommen und ich habe mit dem Kochen begonnen.“[xv]
Eine weitere Herausforderung im Arbeitsalltag der Mitarbeiter*innen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren die Wäscheberge, die im Hotel täglich anfielen. Geschirrtücher, Schürzen und Hauben, Handtücher, Tischtücher und Bettwäsche – all das musste gewaschen, getrocknet, gebügelt und fein säuberlich zusammengelegt werden. Erika Resel (geb. Failler) erinnert sich mit einem Zaudern:
„Die Wäschekörbe waren so groß wie der Tisch. Die hat man mit zwei Leuten tragen müssen. Links und rechts ist einer gegangen. Wenn man dann so einen Wäschekorb mit Tuchenten aufgehängt hat, na da bin ich ja gleich fertig gewesen. Da haben sie mir vielleicht einen Zweiten auch noch gegeben mit Leintüchern. Aber wehe, du hast Handtücher gehabt oder Kopfpolster.“[xvi]
Polsterbezüge und Handtücher waren kleinteiliger, der Umgang mit ihnen deshalb noch zeitintensiver.
„Heute unvorstellbar!“,[xvii] findet Dominik Bednar, der jetzige Besitzer des Hotels. Inzwischen wird die schmutzige Leihwäsche von einer Firma aus Krems abgeholt und gereinigt, gebügelt und ordentlich gefaltet wieder zurückgebracht. Dominik Bednar führt das Hotel „Zum goldenen Lamm“ seit 2015. Sein Arbeitstag ist facettenreich. In der Nebensaison kümmert er sich mit Unterstützung von Mustafa Masudi um die Gäste und koordiniert die Buchungen. Zur Hochsaison von Juni bis September arbeitet er ausschließlich im Büro. „Von Dienstag bis Sonntag haben wir geöffnet. Am Montag sind aber die Bestellungen, die Dienstpläne und alles, das sich in der Woche nicht ausgegangen ist, zu machen.“[xviii]
Die Arbeitsalltage der Beschäftigten bleiben häufig hinter den Kulissen verborgen – früher genauso wie heute. Sichtbar ist meist nur die schöne Seite, entspannte Gäste und lachendes Servicepersonal. Doch was für die einen Urlaub ist, bedeutet für andere Arbeit.
Abbildungsverzeichnis
Postkarte: © Helga Göth, Familie Resel
Abbildung 1: © Familie Resel
Abbildung 2: © Helga Göth
Abbildung 3: © Helga Göth
Abbildung 4: © Familie Resel
Abbildung 5: © Familie Resel
Abbildung 6: © Johanna Resel
Verzeichnis der Audioaufnahmen
Audioaufnahme 1: Interview mit Erika Resel, geführt von Johanna Resel, am 16.08.2022, © Erika Resel, Johanna Resel
Audioaufnahme 2: Interview mit Mustafa Masudi, geführt von Johanna Resel, am 16.10.2022, © Mustafa Masudi, Johanna Resel
Audioaufnahme 3: Audioquelle 3: Interview mit Elisabeth di Giorgio, geführt von Johanna Resel, am 16.10.2022, © Elisabeth di Giorgio, Johanna Resel
Audioaufnahme 4: Interview mit Dominik Bednar, geführt von Johanna Resel, am 16.10.2022, © Dominik Bednar, Johanna Resel
[i] Interview mit Erika Resel, geführt von Johanna Resel, am 16.08.2022.
[ii] Vgl. Goffman, Erving: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, München 51996.
[iii] Vgl. Ebda, S. 3.
[iv] Vgl. Ebda, S. 21.
[v] Vgl. Ebda, S. 23.
[vi] Ebda.
[vii] Ebda, S. 105.
[viii] Interview mit Mustafa Masudi, geführt von Johanna Resel, am 16.10.2023.
[ix] Vgl. Goffman, Wir alle spielen Theater, 1996, S. 104.
[x] Vgl. Spode, Hasso: Eine kurze Geschichte des Hotels. Zur Industrialisierung der Gastlichkeit. In: Langreiter, Nikola / Löffler, Klara / Spode, Hasso (Hg.): Das Hotel (= Voyage. Jahrbuch für Reise- & Tourismusforschung, 9), Berlin 2011, S. 10-31, hier S. 25.
[xi] Vgl. Ebda, S. 16.
[xii] Vgl. Ebda, S. 17f.
[xiii] Vgl. Langreiter, Nikola: Niederösterreich Tourismus 1918-1995. In: Melichar, Peter / Langthaler, Ernst / Eminger, Stefan (Hg.): Wirtschaft. Niederösterreich im 20. Jahrhundert, Bd. 2, Wien / Köln / Weimar 2008, S. 123-164, hier S. 148.
[xiv] Österreichisches Wort für einen großen Topf.
[xv] Interview mit Elisabeth di Giorgio, geführt von Johanna Resel, am 13.08.2022.
[xvi] Interview mit Erika Resel, geführt von Johanna Resel, am 16.08.2022.
[xvii] Interview mit Dominik Bednar, geführt von Johanna Resel, am 16.10.2022.
[xviii] Ebda.